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Neue Perspektiven auf die Architektur

Im Gestaltenworkshop in Formine am Lago Maggiore erarbeiten Architekturstudierende spannende Projekte, die in Aachen und Berlin ausgestellt werden

Seit 20 Jahren schon reist Prof. Thomas Tünnemann vom Fachbereich Architektur einmal jährlich mit Studierenden nach Formine in Italien, um in ruhiger Abgeschiedenheit einen Gestaltungsworkshop durchzuführen. Formine ist eine Ansammlung von wenigen Häusern, die etwa 300 Meter oberhalb des Lago Maggiore liegen. Keine befestigte Straße führt hinauf, das letzte Stück muss zu Fuß zurückgelegt werden. "Ein perfekter Ort, um Architektur frei zu denken", erklärt Tünnemann. 15 Studierende haben in diesem Jahr an gestalterischen Projekten zum Thema "Concezione" gearbeitet. Concezione – die Konzeption, Auffassung, Befruchtung – als Arbeitstitel ist bewusst offen gewählt, auch eine Vorbereitung findet nicht statt. "Die Studierenden sollen sich von dem Ort inspirieren lassen und über Architektur nachdenken, ohne funktionale oder statische Einschränkungen." Die Arbeiten seien eher künstlerisch und provozieren damit neue und andere Herangehensweisen. Im Anschluss an den Workshop findet eine intensive Nachbereitung statt. Dabei werden die in Formine erarbeiteten Plastiken grafisch ausgearbeitet.

Im Einklang mit der Natur

Mit Blick auf den See und die Berge, umgeben von Wald und kleinen Bachläufen, sollen sich die Architekturstudierenden des 5. Semesters mit der Umgebung und der Natur auseinandersetzen. Amélie Degen interpretiert die Ruinen, die im Wald stehen, in einer Skulptur, die die Materialität invertiert: Die alten Steine der Mauerreste werden zu einem Holzsockel, die umgefallenen Äste und Bäume werden zu Gips. Mit "Rovinare", zu Deutsch: ruinieren, hinabstürzen, stellt sie die unumgängliche Veränderung durch Zeit dar. Mark Kochanowski hat sich der Herausforderung gestellt, eine Perspektive, einen Blick ins Land darzustellen. "Sguardo Vagante", der wandernde Blick, ist sowohl plastisch als auch abstrakt: Ein abknickendes und gespaltenes Holz empfindet den von der Umgebung gelenkten Blick nach. Um die Aussicht geht es auch in der Interpretation der montanen Szenerie "Il Panno". Aus Stoff kreiert Nadine Zeman eine schwebende Bergkulisse, die nicht nur antithetisch wirkt, sondern auch den persönlichen Blick – das eigene Empfinden thematisiert.

Ausstellung in Aachen und Berlin

Neben plastischen Arbeiten gibt es auch performative. Luka Hauschild thematisiert in seiner Arbeit "Obsolencenza" – veraltet, obsolet – die Frage nach der Notwendigkeit der Ornamentik, der Verzierungskunst, in der heutigen Zeit. Auf dem Körper aufgemalte Ornamente werden mit Wasser abgespült, bis sie kaum noch erkennbar sind. Die Studierenden bekommen für die Wahl der Umsetzung keine Vorgaben. "Obwohl ich das schon seit zwanzig Jahren mache, bin ich immer wieder überrascht und begeistert von den Ideen und Umsetzungen", erklärt Tünnemann. Gewisse Motive würden sich zwangsläufig wiederholen, die Interpretationen und Ausgestaltungen seien jedoch in jedem Jahr höchst individuell.
Der Workshop soll für neue und andere Herangehensweisen in der Architektur sensibilisieren. "Materialität, Bezug zur und Umgang mit der Umwelt, kulturelle, soziale und lokale Gegebenheiten, der Blick von und nach außen – diese und weitere Aspekte, die in der Architektur eine entscheidende Rolle spielen, werden hier spielerisch erarbeitet", erklärt Tünnemann.

Ein fester Bestandteil des Workshops ist die Ausstellung der Arbeiten. "In Aachen werden die Werke das erste Mal der Öffentlichkeit präsentiert, was gleichzeitig eine Generalprobe für Berlin ist", erklärt Tünnemann. In diesem Jahr wurden die Ergebnisse der beiden Workshops Concezione I 2022 und Concezione II 2023 in der renommierten Galerie "Kunstpunkt Berlin - Raum für aktuelle Kunst" präsentiert. Unterstützt durch die Kuratorin Isolde Nagel haben die Studierenden die Organisation, den Auf- und Abbau der Ausstellung in Aachen sowie die Planung und Umsetzung der Berliner Ausstellung in Eigenregie übernommen. Ihnen bot sich die Möglichkeit, ihre Werke im urbanen Kontext auszustellen und mit Besucher:innen darüber zu diskutieren.