Claudia Niessen

„Wir brauchen mehr qualitativ hochwertigen öffentlichen Raum.“

Wie wollen wir künftig miteinander leben? Welchen Stellenwert hat der öffentliche Raum bei der Stadtplanung? Claudia Niessen hat Architektur mit dem Schwerpunkt Städtebau an der FH Aachen studiert. Als Bürgermeisterin der ostbelgischen Stadt Eupen befasst sie sich unter anderem mit Fragen wie diesen. Wir haben sie besucht.

Frau Niessen, was hat Sie zum Studium Architektur und Städtebau an der FH Aachen bewogen?

Ich wollte schon während meiner Schulzeit Architektur studieren. Aber nicht der klassische Hochbau hat mich interessiert, sondern der Städtebau. Ich lebe seit meiner Kindheit in Kettenis, einem Dorf in der Nähe von Eupen in Ostbelgien. In Belgien konnte ich das Fach Städtebau allerdings nicht studieren, weil es den Studiengang dort so nicht gibt. Bei meinen Recherchen fiel mir das Angebot der FH Aachen auf. Es sprach mich an, und ich habe mich für ein Studium dort entschieden.

Was ist Ihnen aus Ihrer Studienzeit besonders in Erinnerung geblieben?

Das Studienumfeld war sehr familiär, das hat mir gut gefallen. Das Team der Studierenden war eher klein, man kannte sich. Der Kontakt mit den Professorinnen und Professoren war sehr persönlich; es gab einen guten Austausch.

Ein wichtiges Thema während des Studiums war Braunkohle. Das hat mich zunächst erstaunt, weil Braunkohle in Belgien kein relevantes Thema ist. Wir haben im Studium regelmäßig Exkursionen in die nahegelegenen Braunkohlereviere Inden und Gartzweiler gemacht, haben uns diese gigantischen Erdlöcher angeschaut und Umsiedlungspläne studiert. Das hat mich alles sehr beeindruckt, besonders die Umsiedlung der Dörfer. Da werden gewachsene Strukturen plattgemacht und ein paar Kilometer weiter neu aufgebaut. Für mich leben Städte und Dörfer immer auch von der gemeinsamen Geschichte. Die gibt es in diesen Dörfern aber nicht; stattdessen werden sie auf dem Reißbrett geplant und es gibt eine Art Nullpunkt.

Wie werden in Belgien Städte und Dörfer geplant?

Als ich während des Studiums mit der Kommunalpolitik in Belgien anfing, gab es dort im Grunde noch keine Raumplanung. Wenn man sich die Entwicklung der belgischen Gemeinden anschaut, dann sieht man: Es gab keine Sensibilität für eine Ordnung des Raumes, keine Konzepte für öffentliches Grün, für gemeinsame Orte. Alles hat sich irgendwie mehr oder weniger zufällig entwickelt. Erst wurde eine Straße von A nach B gebaut. Das Land rechts und links daneben wurde parzelliert und bebaut. Was übrig blieb, war dann öffentlicher Raum. Etwas Wiese, ein paar Bäume und eine Parkbank – das war es. Erst seit ein paar Jahren steigt so langsam die Sensibilität für die Betrachtung etwa von Wohnvierteln in ihrer Gesamtheit inklusive des öffentlichen Raums.

2002, direkt nach ihrem Studienabschluss, wurden Sie Mitglied des Bauauschusses in Eupen. Wie war der Anfang?

Die ersten Jahre waren echt spannend. Sowohl Kommunalpolitik als auch Bau waren damals reine Männerdomänen. Ich war 2002 die erste Frau im Eupener Bauauschuss. Ich erinnere mich noch gut daran, wie dort in meinem ersten Jahr über einen eingereichten Bauantrag entschieden werden sollte. Alle nickten das Vorhaben ab, aber ich schaute auf den Plan und stutzte. Die angestrebte Höhe passte überhaupt nicht zur Nachbarbebauung, das Gebäude war viel zu hoch. Das sagte ich dann auch so. Da schauen die Herren mich entgeistert an und meinten: „Ja, aber wenn wir mit der Höhe runtergehen, dann verliert der Investor ja eine Wohnung.“ Darauf entgegnete ich: „Das stimmt zwar, aber wir müssen doch schauen, dass das Gebäude ins Stadtbild passt.“

Seit 2018 sind Sie Bürgermeisterin der Stadt Eupen. Was hat sich in Puncto Stadtplanung seither geändert?

Ich behaupte einfach mal: Dadurch, dass ich während des Studiums das fachliche Rüstzeug für den Städtebau und die Raumplanung erhalten habe, stelle ich als Bürgermeisterin ganz andere Ansprüche als dies bis dahin üblich war. Anfangs waren die Investoren sehr überrascht, dass ich Pläne lesen kann und mir nicht einfach etwas erzählen lasse.

Was machen Sie konkret anders als ihr Vorgänger?

Seit ich im Amt bin, haben wir zum Beispiel keine neuen Straßen „in die grüne Wiese hinein“ mehr geplant, weil wir den Flächenverbrauch reduzieren und möglichst viel Fläche unversiegelt lassen möchten. Gleichzeitig müssen wir selbstverständlich dem Bedarf nach mehr Wohnraum nachkommen. Hier sind neue Konzepte gefragt, denn die klassischen Einfamilienhäuser sind einfach nicht mehr zeitgemäß. Wir möchten nicht mehr so sehr in die Breite bauen; unsere aktuellen und künftigen Baumaßnahmen zielen eher in die Höhe und in die Dichte.
Wir möchten auch keine Straßen, die nur aus Parkplätzen bestehen, auf denen man vor lauter Autos die Häuserfassaden nicht sieht. Wir hätten gerne, dass der Parkraum gruppiert ist, etwa am Eingang eines Wohngebietes.
Wir möchten auch weg von den vielen kleinen Grünflächen. Die haben keine hohe Aufenthaltsqualität und sind aufwändig zu pflegen. Wir möchten stattdessen lieber weniger, dafür größere, qualitativ hochwertige Grünflächen. Wir brauchen Plätze, auf denen wir Bäume pflanzen können, die groß werden und 100 Jahre alt werden können.
Diese und weitere Punkte geben wir den Planern mit, wenn neue Baugebiete erschlossen und geplant werden.

Wie gehen Sie bei der Stadtentwicklung mit der Geschichte der Stadt um, wie berücksichtigen Sie das Umfeld bei Baumaßnahmen?

Wir sind sehr zurückhaltend und vorsichtig – man könnte sagen: konservativ – bei allen Maßnahmen im Altstadtbereich. Es ist wichtig, dass wir uns an der Bauweise der alten Häuser orientieren. Aber es darf niemals wie eine billige Kopie aussehen. Bei Neubaumaßnahmen können wir freier sein. Grundsätzlich lege ich bei allen Baumaßnahmen großen Wert auf die Qualität des öffentlichen Raums. Dort findet das Leben der Gemeinschaft statt. Da haben wir mittlerweile einen ganz klaren Fokus.

Wenn man aus dem Rathaus schaut, blickt man auf eine große Baufläche. Was geschieht dort?

Dort entstehen zurzeit mehr als 120 Wohneinheiten und eine große Tiefgarage. Das Konzept sieht vor, dass man dort nicht mehr sein Auto vor der Tür parken kann. Man kann seine Einkäufe kurz ausladen, dann kommt das Auto in die Tiefgarage. Es ist einfach kein Platz in diesem Viertel für Autos vorgesehen.
Der Investor hat über sechs Jahre lang nacharbeiten müssen, bis wir die Baugenehmigung erteilt haben – vor allem, weil wir nicht damit zufrieden waren, wie der öffentliche Raum gestaltet wurde. Ich kriege oft gesagt, wir seien so streng und fordernd. Aber darauf bin ich stolz. Das, was hier gebaut wird, steht für 150 Jahre, da leben Menschen. Da möchte ich sorgfältig und nachhaltig planen.

Ist das ein für Belgien ungewöhnliches Konzept?

Ja, für belgische Verhältnisse ist es überhaupt noch sehr ungewöhnlich, ganze Wohnviertel zu planen. In internationalen Großstädten wie etwa Hamburg, Oslo und Zürich wurden solche Konzepte schon erfolgreich realisiert. Aber wir sind eine kleine Stadt mit 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern. Wir müssen solche Konzepte auf diesen Maßstab herunter brechen, das ist schwierig.

Was ist Ihre Idee, wie wir künftig leben?

Wir sind gerade dabei, das große, wichtige Zukunftsthema „Alternatives, qualitativ hochwertiges Wohnen“ aufzubauen und zu bearbeiten. Das ist sehr spannend, aber auch sehr schwierig. Viele Menschen haben noch klassische Vorstellungen vom eigenen Grundstück und vier-Fassaden-Haus. Sie können sich nicht vorstellen, wie man in einer Wohnung gut leben kann – vor allem mit Kindern. Hier ist die Politik gefragt. Wir müssen den Leuten erklären und zeigen, dass man auch anders sehr gut leben kann.
Klar, es stimmt: Mit Kindern kann man nicht so gut in der Art von Apartments leben, die wir bisher kennen. Aber es gibt durchaus Wohnformen, bei denen man auch in einem Mehrparteienhaus sehr gut als Familie leben kann. Da gibt es dann zum Beispiel Gemeinschaftsräume, die man sich mit anderen Familien teilt. Und es gibt schön gestaltete Grünflächen. Die Qualität des öffentlichen Raums ist entscheidend dafür, wie die Menschen miteinander leben. Da wo man sich trifft und aufhält, da wo die Kinder zusammen spielen, dort entsteht Gemeinschaft, ein Wir-Gefühl.

Datum: Januar 2022